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Zentrum oder Peripherie?

Orte, Räume und Kultur im Europa des 20. und 21. Jahrhundert

Exposé für ein Brückenseminar des Promotionskollegs Ost-West

Europa erlebt seit dem Umbruch von 1989/90 eine fortlaufende Neuordnung seiner politischen, ökonomischen und nicht zuletzt kulturellen Topographie. Die alten Ordnungen, Blockbildungen und Grenzziehungen des kalten Kriegs sind hinfällig, neue Strukturierungen vielfach noch im Flusse. Zusätzliche Impulse für diese Entwicklungen bringt die EU-Osterweiterung vom Mai 2004. 

Längst reagieren sensible Künstler, Wissenschaftler, Literaten und Publizisten auf diese fundamentalen Verschiebungen: Filme, Bücher und Aufsätze mit Titeln wie „Die Mitte liegt ostwärts“ (Karl Schlögel), „Das letzte Territorium“ (Juri Andruchowytsch) oder „Mein Europa“ (Andruchowytsch / Andrezej Stasiuk) belegen, wie stark der Aspekt der räumlichen Erfahrungen und der individuellen wie kollektiven „Verortung“ die Debatten bestimmt. Gerade ostmitteleuropäische Intellektuelle betonen, daß die traditionell an einer imaginären Linie Rom - Alpen - Rhein - Paris - London orientierte europäische Kulturdiskussion wesentliche Räume Europas ausgeblendet hat. Der ukrainische Essayist Andruchowytsch erinnert daran, daß „das geografische Zentrum Europas in den Karpaten“ liegt, auch wenn diese Region „im europäischen Bewußtsein immer [als] eine Grenze, ein Randgebiet, [...] eine Peripherie der Kulturen und Zivilisationen“ existiert hätte (Zitiert nach: Steffen Hänschen: Mitteleuropa redivivus. In: Osteuropa 54, 2004, Heft 1, S. 44.). 

Grund zur Aufmerksamkeit bestand jedoch seit langem. Hatten nicht von diesem scheinbar peripheren Raum des alten „Kerneuropas“ die „mitteleuropäischen Meditationen“ eines György Konrads und seiner tschechischen und polnischen Mitstreiter dazu beigetragen, die morsch gewordene Raum-Ordnung von Jalta geistig aus den Angeln zu heben, längst bevor dies die Mächtigen in Moskau wie in den Metropolen Westeuropas und Amerikas wahrhaben wollten? Spätestens mit den intensiven Europa-Diskussionen des Jahres 2003 stellt sich das Verhältnis von Zentrum und Peripherie auch politisch ganz neu. Wenn freilich das unerwartete und offenkundig nur zeitweilige Einvernehmen Polens und Spaniens im Verfassungsstreit mit Deutschland und Frankreich sogleich als eine Allianz der Ränder gegen die Mittelachse Paris - Berlin interpretiert wird, so kam hier ein beträchtliches Stück zentralistischer Arroganz gegenüber zwei alteuropäischen „Kernkulturen“ zum Ausdruck. 

Gerade deutsche Intellektuelle haben nicht immer besonders sensibel auf die Wahrnehmungen und Selbstinterpretationen ihrer kleineren oder größeren Nachbarstaaten reagieren, wenn sie eine „Wiedergeburt Europas“ (Habermas) auf ein „Kerneuropa“ beschränken und damit zentralisierenden Tendenzen Vorschub leisten; demonstriert doch gerade die kulturföderalistische Tradition Deutschlands den Charme polyzentrischer, politisch-kultureller Mannigfaltigkeit. Allerdings ist Deutschland anders als seine westlichen und östlichen Nachbarn dem fundamentalen topographical turn Europas seit 1990 mindestens in doppelter, eigentlich sogar in dreifacher Weise ausgesetzt: Nicht nur von den internationalen Verschiebungen der europäischen Raumstrukturen mindestens genauso betroffen wie etwa Österreich oder Polen, und sicher mehr als Dänemark oder Belgien, ist es vielmehr durch die Vereinigung von 1990 selbst ein höchst wichtiger Akteur in diesem Prozeß gewesen.

Schließlich aber - und damit ist eine weitere, grundsätzliche Ebene des Themas „Zentrum oder Peripherie“ angesprochen - verschoben sich auch innerhalb des Landes die intellektuellen Landkarten ganz außerordentlich. Der für die alte Bundesrepublik prägende Nord-Süd-Antagonismus ist im vereinten Land einem mindestens mittelfristig dominanten Ost-West-Diskurs gewichen. Die Veröstlichung Europas ist in einer Veröstlichung Deutschlands mit-, vor- und nachgebildet. Schon vor der tatsächlichen Verlagerung des politischen Zentrums vom Rhein an die Spree produzierte die Rede von der „Berliner Republik“ den Eindruck einer inneren Neu- oder Umgründung der Bundesrepublik mit einer Metropole als unumstrittenen Zentrum von Geist und Macht. 

Deutschland ist spätestens seit der Reformation geprägt durch intellektuelle Kleinräumigkeit und Divergenz, rasch auch durch eine Dichotomie von „Metropole“ und „Provinz“ als Spielart des Zentrum-Peripherie-Problems. Räumliche Trennung geistiger, wirtschaftlicher und politischer Kraftzentren erwies sich immer wieder auch als Quelle von Kreativität und Originalität. Erst die verspätete Nation gewann mit Berlin auch eine verspätete Metropole, in der Kultur und Politik in engere, gleichwohl nie intime Berührung traten und die zudem von der Peripherie her - etwa von der „Kulturstadt“ München oder der weltläufigen „Buch- und Messestadt“ Leipzig - in ihrer Bedeutung stets angefochten blieb.

Das deutsche Exempel steht indessen für nur eine mögliche Engführung des Themas von Zentrum und Peripherie. Genauso vielfältige Aufschlüsse ergibt eine Übertragung auf größere Räume Europas oder eine Kontextualisierung im Globalisierungsdiskurs. Auch hier kann auf die Zeitscheide von 1989 bis 1991 zurückgegriffen werden mit dem Ende der bipolaren weltpolitischen Struktur der Machtblöcke. Nach den sanften Revolutionen in Ostmitteleuropa hat der Auseinanderfall der Sowjetunion im Jahre 1991 und die Rekonstruktion Rußlands bzw. einer Rußländischen Nation seither eine fundamentale Verschiebung der transkontinentalen Raumlinien vom Bug bis Zentralasien bewirkt. Und auch innerhalb Rußlands ordnete sich das Bezugsnetz zwischen der bis dahin allmächtigen Zentrale in Moskau - die freilich durchaus längst den regionalen Machthabern und ihren traditionsorientierten Spielarten des Sozialismus manche Gestaltungsräume gelassen hatte - und den Provinzen neu. Jedenfalls nutzten in den neunziger Jahren einige Gouverneure ihre neuen Handlungsmöglichkeiten für einen Ausbau von mehr oder weniger autonom agierenden Subzentren; längst scheint freilich unter Putin hier ein roll-back eingetreten zu sein. Doch ebenso interpretationsbedürftig wie die Zukunft des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie innerhalb Rußlands ist, so offen sind auch die Entwicklungen in den Grenzgebieten und den unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Die Konflikte in der Kaukasusregion - anfangs der zwischen Armenien und Aserbaidschan, nun seit langem die Kriege in Tschetschenien - belegen, wie massiv die dabei auftretenden Spannungen sind. In anderen Räumen an der Peripherie, wo ähnliches Aggressionspotential vorhanden war bzw. ist, zum Beispiel im Baltikum oder in Tatarstan, sind offene Ausbrüche von Gewalt vermieden worden, wenigstens bislang. Doch ist überall erkennbar, daß auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion alte kulturelle Faktoren, voran die Religion und die ethnischen Traditionen, einen neuen Stellenwert für die territoriale Identitätsbildung zurückgewonnen haben, nachdem das Zwangsband der sozialistischen Ideologie gesprengt war. 

Leicht läßt sich dieser Befund auf globale Zusammenhänge übertragen. Dabei muß man kein Anhänger der Thesen von Huntington sein, um zu erkennen, daß die „neue Weltordnung“, von der Anfang der neunziger Jahre gesprochen wurde, mittlerweile durch neue Bruchlinien und Antagonismen aufgehoben wurde. Die Erwartung eines posthistorischen Zeitalters nach dem „Ende der Geschichte“ im Zeichen einer monopolaren, liberal homogenisierten Welt ist längst vor dem 11. September 2001 in sich zusammengefallen: in Europa spätestens mit den nationalen Emanzipations- und Bürgerkriegen in Jugoslawien. 

Für Osteuropa, also für den Zusammenhang von (europäischem) Rußland und Ostmitteleuropa, hatte der Konflikt auf dem Balkan eine raumstrukturell beschleunigende und bereinigende Funktion. Jede Vorstellung von einem mitteleuropäischen Zwischenraum zwischen „dem Westen“ und Rußland mußte endgültig hinfällig sein. Die Entscheidung für die NATO-Mitgliedschaft und dann die Anwartschaft auf die EU-Osterweiterung unterstrich die Verminderung der russischen Zentralposition und führte zu entsprechender Polemik gegen diese Entscheidung der ehemaligen „Provinzen“ des sowjetischen Hegemonialbereichs. Doch rückte mit diesen Verschiebungen nicht einfach die Scheidelinie zwischen dem Westen und Rußland weiter in den Osten, etwa entlang der von Huntington vorgezeichneten Linie zwischen katholischer und orthodoxer Christenheit. Vielmehr verlor Rußland wenigstens vorübergehend doch wohl partiell seine globale Zentralfunktion. Zwar ist das größte Land der Welt sich immer noch genug, was etwa auch für China oder Indien gelten mag. Doch auf globaler Ebene fehlt der Antagonist zum jetzt alleinigen Hegemon USA. Bleibt also alles außerhalb des neuen monopolaren Zentrums Peripherie? Steht das stolze „wiedervereinigte“ Europa im Grunde mit leeren Händen da und ähnlich an die Seite gerückt wie die anderen Nebenzentren dieser Welt?

Diese Skizze gegenwärtiger Bezüge auf weltpolitischer Ebene - 2003 in der Formel vom „alten“ und „neuen Europa“ kristallisiert - ließe sich in mindestens drei Richtungen ausdehnen: in die Geschichte, in den „Raum“ und in die Zukunft. Einerseits öffnet das Wechselspiel von „Zentrum und Peripherie“ eine historische Tiefenperspektive für einen Blick auf die Schauplätze des Ausfechtens nationaler, ethnischer, konfessioneller, ideologischer und ökonomischer Interessen in Europa. Grenzregionen, „Zwischenräume“, Regionalismen und „erfundene Regionen“, nicht zuletzt auch traumatische „kleine Heimaten“ oder Heimattraumata haben im interdisziplinären Raum von Geschichte, Politik, Literatur und Wissenschaft in den letzten Jahren vielfältig neue Beachtung gefunden. Zur intellektuellen Herausforderung wird eine solche Historisierung, andererseits, durch die neue Diskussion geopolitischer und raumtheoretischer Konstrukte, wie sie etwa Karl Schlögel angestoßen hat. Sie sind ihrerseits, drittens, von der EU-Osterweiterung befruchtet worden. Sie hat nicht nur zu zahlreichen ökonomischen Studien und bevölkerungspolitischen Spekulationen Anlaß gegeben, sondern auch die nostalgisch-utopische Phantasie beflügelt. Dies gilt speziell für die Debatte um die Grenzen Europas, in der sich alte Raumkonzepte („Mitteleuropa“) und alt-neue ethnisch-religiöse Konstruktionen (z. B. Feindbild Islam / Türkei) zu brisanten Zukunftsszenarios mischen. 

Für das Promotionskolleg Ost-West ist es nicht nur eine solche Reaktualisierung historisch geglaubter Denkfiguren in Deutschland und in Ost-Mittel-Europa, die das Denkbild von „Zentrum und Peripherie“ für einen europäischen Diskurs exemplarisch machen. Hinzu kommt noch ein spezifischer Gesichtspunkt, der sich aus dem Kreis der Teilnehmer und ihrem gemeinsamen Arbeitsschwerpunkt ergibt: Das Kolleg versteht sich selbst als ein legitimer Sproß der neuen europäischen „Entgrenzung“. Es setzt mit seiner internationalen Zusammensetzung auf einen den gesamten Kontinent umschließenden geistigen Raum. Seine Peripherien gewinnen für das Kolleg identitätsstiftende Kraft, denn - zum Beispiel - aus der Ukraine, dem Baltikum oder aus Rumänien stammen nicht nur viele Mitglieder, sondern mit ihren Themen auch zentrale Denkelemente der Kollegarbeit. Die den zweiten Kollegturnus bestimmende Leitfrage nach nationalen Kulturphänomenen und ihrer Internationalisierung seit 1800 ist an „peripheren“ wie an „zentralen“ Raumbeispielen (z. B. Hölderlin in Tübingen, Heidelberger Romantik, Aufbruch der klassischen Moderne in München, der „Blaue Reiter“ in Murnau) diskutiert worden. 

Für die Untersuchungsfelder der Doktoranden sind europäische Rand- und Übergangsräume (z. B. die Region Kaliningrad, das Oberschlesien Horst Bieneks, Donbass, Bromberg-Hohensalza) ebenso relevant wie Phänomene aus den politisch-kulturellen Zentren. Fast überall scheint die Frage nach dem Wechselspiel von Provinz und Metropole, Zentrum und Peripherie bei der Herausbildung neuer kultureller Formen und Denkstrukturen, ihrer nationalen Durchsetzung und ihrer Transnationalisierung fruchtbar zu sein - also die Frage nach dem Standpunkt, dem räumlichen und intellektuellen Erfahrungsraum und Erwartungshorizont von Künstlern, Politikern und Wissenschaftlern, von sozialen und kulturellen Gruppen und ethnischen Populationen, die im Mittelpunkt der einzelnen Forschungsprojekte des Kollegs stehen.

Weiterführende Literatur

·       Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium. Essays. Frankfurt am Main 2003.

·       Juri Andruchowytsch / Andrzej Stasiuk: Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. Frankfurt am Main 2004.

·       Jenö Bango: Auf dem Weg zur postglobalen Gesellschaft. Verlorenes Zentrum, abgebaute Peripherie, „erfundene Region“. Berlin 1998

·       Steffen Hänschen: Mitteleuropa redivivus. In: Osteuropa 54 (2004), Heft 1, S. 43-56.

·       Michael Hardt, Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main, New York 2002.

·       Robert Kagan: Macht und Ohnmacht. Amerika und Europa in der neuen Weltordnung. Berlin 2003.

·       György Konrad: Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt am Main 1985.

·       Lermen, Birgit / Milan Tvrdik (Hg.): Brücke zu einem vereinten Europa. Literatur, Werte und Europäische Identität. Prag 2003.

·       Krzysztof Michalski: Macht, Raum, Europa. Frankfurt am Main 1994.

·       Michael G. Müller / Rolf Petri (Hg.): Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen. Marburg 2002.

·       Karl Schlögel: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München, Wien 2002.

·       Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München, Wien 2003. 

·       Heinz Theisen: Überdehnung oder Überwindung. Europas kulturelle Grenzen. In: Osteuropa 54 (2004), Heft 3, S. 34-46.

·       Philipp Ther / Holm Sundhaussen: Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Marburg 2003. 

 

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Letzte Änderung: 03.06.2004  | Ansprechpartner/in: Inhalt & Technik